von Fijula

Vor sechs Wochen: Die Landkarten liegen auf dem Tisch, die Bücher mit Streckenbeschreibungen daneben, es werden Unterkünfte gegoogelt und Fahrpläne gelesen. Wir stellen uns die Frage, ob wir eine Teilstrecke mit dem Fahrrad zurücklegen, damit wir Spanien etwas schneller näher kommen. Noch sind wir in Frankreich unterwegs und da wir im Mai erstmals 3 Wochen am Stück laufen, bietet sich die Chance, eine große Strecke des Pilgerweges zu bewältigen. Wir diskutieren, wägen ab und kalkulieren unser Zeit-, Kraft- und Vermögens-Budget. Die Vorfreude steigt. Wir sind im Geiste schon unterwegs, mit unseren Rucksäcken auf der Strecke. 

Eine Woche vor Karneval: Heute steht ein Pilgertag an. Wir pilgern in den Wintermonaten heimatnah. Diesmal geht es an den Niederrhein von Straelen nach Venlo. Wir kommen an den ersten Karnevalszügen vorbei und unsere einzige Sorge ist ein angekündigter Sturm. Ich weiß gar nicht, ob das Coronavirus überhaupt in unseren Gesprächen vorkam. Ich vermute, eher nicht. Wir freuen uns, dass der Sturm sich in Grenzen hält und wir am späten Nachmittag in die sehr lebendige Stadt Venlo einlaufen. Die Geschäfte und Cafés sind geöffnet und werden von uns auch besucht. Wir wollen bald mal wiederkommen zum Shoppen.DSC_6335

Vor 3 Wochen: Am Wochenende steht Pilgern an. Inzwischen hat das Coronavirus Deutschland erreicht und es werden Veranstaltungen abgesagt. Es ist im Gespräch, die Schulen zu schließen. Wir treffen uns am Samstagabend vor dem sonntäglichen Pilgern. Die Stimmung ist gut und wir sind fest entschlossen, dem Virus die Stirn zu bieten. Jemand fragt: “Meint ihr, dass wir im Mai pilgern können?” “Ja klar”, lautet die mehrheitliche Antwort. “Bis dahin ist das Virus durch.” Darauf stoßen wir mit Corona Bier an. Uns tut das Bier leid, weil es jetzt in so einem schlechten Licht dasteht. 

Am nächsten Tag pilgern wir, nach langem Überlegen, wieder am Niederrhein. Wir testen eine Strecke, die wir demnächst offiziell als “Premium-Pilgern du Soleil ” anbieten wollen, ein Schnupper- Wochenende für Interessierte in unserer Begleitung. Das Projekt soll im April starten und wir wollen es bald veröffentlichen. Zu diesem Zeitpunkt konnte sich keine von uns vorstellen, was in den nächsten drei Wochen geschehen sollte. 

Heute – drei Wochen später: Social distancing. Ich hätte es vor ein paar Wochen noch für einen Begriff aus der Psychologie gehalten, um das Verhalten von Leuten zu beschreiben, die sich von allen Mitmenschen zurückziehen. Ich zeige eigentlich ein eher gegenteiliges Verhalten und doch befinde ich mich jetzt genau dort. Ich bin im “social distancing”. Von den Pèlerins darf ich nur eine treffen, da Menschenansammlungen mit mehr als zwei Personen verboten sind. Das Corona-Virus hat unser Leben übernommen und es war eine feindliche Übernahme. 

Die Landesgrenzen sind geschlossen, wir können hier nicht ausreisen, geschweige denn anderswo einreisen. Das Reisen an sich ist ausgesetzt bis auf Weiteres. Vieles ist ausgesetzt, alle Veranstaltungen, die Geschäfte bis auf wenige Ausnahmen sind geschlossen, ebenso die Schulen und Kitas. Das müssen wir jetzt meistens allein zuhause aussitzen, denn viele sind zudem ins Home-Office verbannt. 

Wir wissen, dass der Bekämpfung des Virus nun Priorität eingeräumt werden muss, und doch trauern wir. Wir schauen rüber nach Frankreich. Unsere Herzen werden schwer, wenn wir die Menschen kämpfen sehen. Sie kämpfen schwer gegen das Virus, in den Gegenden, in denen wir kürzlich noch unterwegs waren. Wir fühlen mit der Lorraine und uns bedrückt es, die leeren Straßen und Plätze in Nancy und Dijon zu sehen. 

Es gibt eine Meldung vom Pilgerforum: Der Jakobsweg ist offiziell geschlossen. Spanien wird vom Virus überrollt. Wir sehen Italien, wir sehen die Welt. Die Welt, die wir lieben, ist einerseits erstarrt und kämpft andererseits ums Überleben. Wir werden wieder laufen, das steht fest. Ungewiss ist nur, wann das sein wird, wie so vieles im Augenblick. 

Wir werden wieder laufen.

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