„Morgens will der Pilger seine Schuhe anziehen und sie passen nicht! Dann stellt er fest, es sind gar nicht seine. Es ist exakt das gleiche Modell, aber nicht die gleiche Größe.“

Gespannt lauschen wir dem Herbergsvater, der uns diese Geschichte erzählt. Wir ahnen schon, wie es weiter geht, und trotzdem hängen wir an seinen Lippen. „Ein anderer Pilger hat wohl versehentlich, man weiß es nicht, die Wanderschuhe für seine eigenen gehalten und ist damit auf und davon.“ Wir schauen erst die Schuhe an, die noch im Regal stehen und dann fragend den Erzähler. Ich halte die Spannung nicht lange aus: „Was hat er dann gemacht, ist er auf Socken weiter?“ „Nein“, beruhigt mich der Herbergsvater, „wir haben noch ein Paar Schuhe für ihn gefunden.“

Mein Blick wandert wieder zum Regal, wo das zu kleine Model weiterhin auf einen neuen Besitzer wartet. Die Boots sehen noch recht gut aus, nicht neu, aber auch nicht abgetragen. Sie sind mausgrau und eher unauffällig. Allein die sie umgebenden Gegenstände lassen sie auffallen. Denn sie stehen da nicht allein, sondern sind umgeben von Shampooflaschen, Sonnenmilch, Bürsten, T-Shirts, Kaffeebechern aus Porzellan (wer packt sowas ein?), Jacken, Regenschirmen, Büchern, Ladekabeln und allerhand anderen Gegenständen.

Das erfahrene Pilgerauge erkennt sofort, welche Gegenstände absichtlich zurück gelassen und welche vergessen wurden. Chora beginnt, interessiert zu stöbern. Sie hat ein Talent zum Finden. Manchmal fehlt ihr ein Gegenstand und es dauert nicht lange, da findet sie ihn irgendwo. Irgendjemand hat es für sie verloren, davon ist sie überzeugt. Der Camino gibt und der Camino nimmt. Ich möchte das hier nicht vertiefen und werde dem einen eigenen -Beitrag widmen.

Ich betrachte das Regal mit den Zurücklasslingen und sortiere nach Absicht und Versehen. Die Literflasche Sonnenmilch ist einfach zu schwer, um sie weitere 400 Kilometer zu tragen. Hatte der Pilger den Wetterbericht der nächsten 14 Tage gesehen und Sonnenmilch gegen Regenschirm getauscht? Hoffentlich war sein Wettbericht nicht noch auf sein Heimatland eingestellt. Man sieht sie immer wieder, die rot glänzenden Waden und verbrannten Nacken, wenn sie vor einem laufen.

Die Familienpackung Shampoo ist wohl auch eher der Gewichtszensur zum Opfer gefallen. Ich weiß aus Erfahrung, dass manchmal auch ein Stück Kernseife reicht. Die Haare stehen danach zwar wild vom Kopf ab, aber das nimmt man in Kauf und sortiert konsequent auch gleich die Bürste aus.

Bei den Kleidungsstücken ist ebenfalls davon auszugehen, dass sie der Aktion „Ballast abwerfen“ zuzuordnen sind. Vielleicht blieben sie aber auch auf der Wäscheleine zurück. Wird es erst nach 5 Kilometern bemerkt, kehrt niemand mehr um, die 10 Extrakilometer ist kein T-Shirt wert.

Ladekabel hingegen sind sicherlich versehentlich zurück geblieben. Das passiert schnell und uns oft auch beinahe. Sie stecken unauffällig in der Steckdose und bieten einen so vertrauten Anblick – da werden sie schnell übersehen.

Was nie zurück bleibt, sind Blasenpflaster. Sie werden gehütet und jeden Abend gezählt, ob sie noch bis zur nächsten Einkaufsmöglichkeit reichen. Es gibt kaum einen Pilgerfuß, der nicht bepflastert ist. Abends beim gemeinsamen Essen werden die Füße meistens offen getragen, denn die Wanderschuhe stehen im Schuhregal (in der Regel) bis zum nächsten Morgen. Da sieht man die Leiden der Pilger in verschiedenen Eskalationsstufen, je nach Anzahl der Pflaster.

In vielen Herbergen gibt es neben dem Schuhregal auch ein Regal mit Zurücklasslingen. Der ein oder andere Pilger findet womöglich etwas, was er in der Unterkunft zuvor vergessen hat, und der Verlust kann hier ausgeglichen werden.

Ich brauche nichts und möchte auch nichts zurücklassen. Die Regale ziehen mich aber immer magisch an. Jeder Gegenstand wird betrachtet und ich überlege, wem er wohl gehört haben könnte und wer ihn wohl irgendwann mitnehmen würde. Erzähl mir deine Geschichte.

Die Geschichte mit den Schuhen begleitet mich von da an. Immer wenn wir unsere Schuhe ausziehen und in ein Regal stellen müssen, schaue ich, ob eventuell ein ähnliches Modell dort steht. Vielleicht in einer halben Nummer größer?!