von Fijula

Ich rieche den Kaffee um 6:38 Uhr, zwanzig Minuten, nachdem wir aus der Herberge in Sansol in die Dunkelheit gestolpert sind. Torres del Rio heißt der Ort, der uns nun mit Kaffeeduft aus einem geöffneten Bistro empfängt.

Das wird ein guter Tag!

Mit dem Kaffeebecher in der Hand wandern wir zur achteckigen Heiliggrabkirche. Auch hier finden wir eine offene Tür – tatsächlich ein guter Tag!  Das Oktagon, der achteckige Zentralbau der Kirche, ist uns schon von Eunate bekannt (siehe: Das Glück liegt hinter dem Berg).

Über die Bedeutung des oktogonalen Baus gibt es viele Geschichten. Bekannt ist, dass die Freimaurer eine Vorliebe für achteckige Bauten hatten, aber auch, dass die Zahl Acht im Christentum für die Auferstehung Jesu steht. Die Zahl Acht steht auch für Vollkommenheit und göttliche Perfektion.

Mich nimmt der Zauber der Symmetrie gefangen. Die Vollkommenheit des Augenblicks wird nicht unwesentlich vom heißen Kaffee in meiner Hand perfektioniert.

Heiliggrabkirche in Torres del Rio

Wir müssen weiter, die Morgendämmerung schreitet voran. Auf einer Anhöhe treffen wir Oleander, die ein paar Kilometer mit uns läuft. Rauf und runter geht es durch eine sehr abwechslungsreiche Landschaft. Gitarrenklänge dringen an unsere Ohren. Ein Mann sitzt unter einem Baum und singt Halllelujah von Leonard Cohen. Er berührt unsere Sinne. Gebannt verharren wir und lauschen, dann tragen wir das Lied in unseren Köpfen weiter in den Tag.

Kurz vor Vianna verlässt uns Oleander, um mit Froggy nach Logroño zu fahren. Es ist heiß. Die verbliebenen drei Pelerines laufen durch ein Tor in die Stadt.

Rote Wimpel flattern über engen Gassen. Es liegt eine entspannte Freundlichkeit in der Luft. Menschen sitzen draußen vor Cafés und Restaurants, wir setzen uns dazu und werden Teil des fröhlichen Bildes. Beinahe vergessen wir weiterzulaufen, so wohl fühlen wir uns. Es sind jedoch noch zehn Kilometer bis Logroño und die Hitze strebt ihrem Höhepunkt entgegen. Die Vernunft drängt uns zurück auf den Weg. Wir verlassen Viana durch das Glückstor. Zügig marschieren wir auf steinigen und staubigen Wegen durch die Gluthitze. Schatten ist erst rar und dann gar nicht mehr zu finden. Wir schweigen vereint im Durchhaltemodus, begleitet vom Sound unseres Atems und unserer Schritte.

Keine Pilger sind auf dem Weg, sie sind entweder in Viana geblieben oder schon in Logroño angekommen. Das Nachmittagsloch, verursacht durch die steigenden Temperaturen, umgibt uns mit Leere. Nach sechs Kilometern erspähen wir ein Waldstück am Horizont. Die Hoffnung auf ein schattiges Plätzchen führt zu akuter Vitalisierung. Bald darauf schmeißen wir unter den Bäumen unsere Rucksäcke ab, reißen die Schuhe von den Füßen und fallen erleichtert auf unsere Isomatten, wo wir die letzten Vorräte teilen. Ich schließe die Augen und dämmere kurz weg. Ein Zapfen fällt aus einem Baum auf mein Gesicht und lässt mich hochschrecken. Da sehe ich sie. Eine weiße Gestalt gleitet beinahe geräuschlos auf dem naheliegenden Weg heran. Ich schaue zu Chora und Fleur, die ihre Blicke ebenfalls auf die Frau im weißen Gewand gerichtet haben. Sie trägt einen roten Rucksack und schreitet elegant an uns vorbei.

„Ich glaube, ich habe eine Erscheinung“, scherze ich verblüfft, „aber ihr habt sie doch auch gesehen?“ Lachend über kollektive Sinnestäuschungen und Luftspiegelungen in flirrender Hitze packen wir zusammen und nehmen den Weg wieder auf. Kurze Zeit später taucht die weiße Frau erneut vor uns auf. Ihr Rucksack scheint ähnlich schwer und ebenso voll wie unsere, doch ist ihr Gang leichtfüßig und unangestrengt.

„Buen camino!“, grüßen wir einander, als wir an ihr vorübereilen. Dann schließt sie wieder zu uns auf, überholt und betrachtet eine Gedenktafel am Wegesrand.  Im Vorbeigehen sehen wir, dass sie einen weißen Leinenanzug trägt, ein Hut mit einem überdimensionierten Schirm beschattet ihr Gesicht. Das Ganze wirkt surreal, als wäre sie ein Zauberwesen aus einer anderen Welt.  

Bald haben wir sie aus den Augen verloren und stellen uns entschlossen gegen die letzten Anstiege. Logroño zeichnet sich schon in der Ferne ab, legt uns zur Begrüßung jedoch erst einmal das wenig charmante Gewerbegebiet vor die Füße. Der Asphalt strahlt heiß von unten, die Sonne erbarmungslos von oben, als wir uns eine Straße hochschleppen. Im Schatten eines einzelnen Bäumchens drängen wir uns, um durstig unsere Wasserflaschen zu leeren. Da sehen wir sie wieder, die weiße Frau, wie sie mühelos die Anhöhe heraufkommt.

„Seid ihr auch Deutsche?“, lächelt sie zu unserem Erstaunen. Erstmals sehen wir das freundliche und offene Gesicht unter dem großen Schirm ihrer Kopfbedeckung. Regine aus München begleitet uns die letzten Kilometer, wir erfahren, dass sie gerne in der Hitze laufe, solange sie ihr Tempo gehe. Der weiße Leinenanzug, der ihr etwas Unwirkliches gibt, sei ihr das angenehmste Material auf der Haut. Sie möge keine Funktionskleidung. Auf meine Bemerkung, dass Weiß doch sehr schmutzanfällig sei, gerade hier im staubigen Teil Spaniens, winkt sie ab und meint, es sei extrem leicht zu reinigen und trocknen. „Cool“, denke ich beeindruckt und beschließe, es auch mal mit weißem Leinen zu versuchen.

Wir plaudern angeregt über Dies und Das. Sie erzählt uns von ihrer Liebe zur Oper und wir von unseren zahlreichen Pilgerabenteuern. Ehe wir uns versehen, sind wir in Logroño. Es fällt uns beinahe schwer, uns zu verabschieden, so interessant und kurzweilig waren unsere letzten Kilometer mit Regine, der weißen Frau.

Puente de Piedra, sie ist das Wahrzeichen der Stadt, über diese Brücke betreten die Pilger Logroño.

Am Fuß der Puente de Piedra, der Steinbrücke über den Fluss Ebro, trennen sich unsere Wege. Wir gehen über die Brücke, sie bleibt am Ufer zurück. Ich drehe mich noch einmal um und sehe sie an dem Geländer lehnend aufs Wasser schauen. Die Szene wirkt wie ein Gemälde von Joaquin Sorolla, dem spanischen Maler, der Frauen vorzugsweise in luftigen weißen Kleidern darstellte, vom Wind umspielt, in Licht getaucht.