von Fijula

„Wie war das für Dich, anzukommen, nach so vielen Kilometern?” “Wie ist das für Dich emotional?” Das werde ich oft gefragt und die Fragen sind gar nicht leicht zu beantworten.

„Viele fallen in ein Loch, wenn sie wieder zurück sind“, sagt jemand anderes. Das zumindest kann ich nicht bestätigen. Ich bin jetzt zwei Wochen zurück aus Spanien und ich habe noch kein Loch entdeckt, außer in meinen Wanderschuhen.

Vielleicht liegt es an der Zielsetzung. Für mich war das Laufen, das Gehen das eigentliche Ziel, nicht das Ankommen. Das Ziel „Santiago de Compostela“ lag für mich nur am Ende der letzten Etappe in diesem Jahr. Es ist aber nicht das Ende meiner Pilgerreise.

Emotionen gab es viele und die meisten auf dem Weg. In unserem gewohnten Alltag zuhause wissen wir zwar auch nicht immer, was der Tag bringt, aber wir haben eine ungefähre Vorstellung davon. In den meisten Fällen wissen wir, wo wir abends unser Haupt betten und wer mit uns das Zimmer teilt.

Beim Pilgern weiß man das nicht. Besonders an den Tagen, an denen wir keine Unterkünfte vorbuchen konnten, uns einfach darauf verlassen haben, irgendwo schon ein Bett in einer Herberge zu finden. Sich darauf einlassen zu können, ist nicht immer leicht.  Manchmal hat mich eine Mitpilgerin gefragt: „Was ist, wenn wir nichts finden?“

Ja, was ist dann? „Ich gehe einfach davon aus, heute Abend ein Bett zu haben“, höre ich mich sagen und merke, dass meine Antwort nicht zufriedenstellend ist. „Ich denke über dieses Problem erst nach, wenn wir es haben“, beschließe ich. Sofort merke ich, dass mich diese Worte seltsam befreien. Wie oft denken wir über Probleme nach, die wir haben könnten, aber in den meisten Fällen nie haben. Welch eine Ressourcenvergeudung! Wieviel Zeit verbringt man damit, Lösungen für Probleme zu finden, die nie auftauchen? Einfach nur, weil sie auftauchen könnten. Und sind sie tatsächlich da, beginnt man trotzdem noch mal zu denken.

Es ist bestimmt angebracht, sich auf manche Dinge vorzubereiten. Dazu gehört für mich das Wetter. Ein sehr emotionales Thema. Wetter empfindet jeder anders. Letztes Jahr habe ich gemerkt, dass Hitze, die bei Vielen schon jenseits der 25 °C beginnt, mit Ängsten verbunden ist. Bei mir ist das eher Kälte und die beginnt unterhalb von 25°. Dieses Jahr hatten wir zwei Abende in León, an denen sich die Temperaturen im einstelligen Bereich bewegten. 4-8 Grad. Da wurde ich sehr emotional! Meine Emotionen schwankten zwischen Empörung, Fassungslosigkeit und Wut. Ich fühlte mich regelrecht von Spanien betrogen.

Genauso fassungslos konnte ich reagieren, wenn sich hinter der nächsten Kurve nicht das erwartete Dorf zeigte, sondern sich ein weiterer Berg aufbäumte. Ich hatte mich schon bei Café con leche gesehen, musste nun aber einsehen, dass zwischen mir und dem dampfenden Kaffee noch 600 Höhenmeter lagen. Wenn man gefühlt am Ende seiner mentalen und physischen Kräfte ist, möchte man sich heulend ins Gras schmeißen und mit den Fäusten auf den Boden trommeln. Stattdessen kratzt man von irgendwo tief im Inneren ein paar Kraftreserven zusammen und übt sich in Selbstbeschiss: „So steil ist das nicht, sieht nur so aus, wahrscheinlich sind die 600 Höhenmeter ein Druckfehler, fühlt sich ja auch gar nicht so steil an. Nein, die Beine zittern nicht, das ist nur der Tanz der Fettzellen am Oberschenkel.“

Emotionale Momente, außer wenn ich mal wieder die natürlichen Leistungsgrenzen meines Körpers neu gesteckt hatte, gab es für mich in den kleinen Dorfkirchen.

Von außen sind sie oft unscheinbar aus grauem Lehm und Sandstein, schmiegen sich geduckt in eine Nische des Dorfbildes und man könnte achtlos vorbei gehen. Entscheidet man sich jedoch hineinzugehen, entdeckt man, mit welcher Liebe zum Detail die Kirchen ausgestattet wurden. Gelegentlich trifft man Frauen aus dem Dorf, die frische Blumen aufstellen oder alles abstauben und in Schuss halten. Sie strahlen Stolz und Freude aus, besonders wenn man ihnen sagt, wie schön ihre Kirche ist. Für mich bedeutet der Besuch einer dieser Kirchen auch Respekt den Menschen gegenüber, die sie mit liebevoller Pflege instandhalten.

 Die Dörfer sind so klein, dass sich uns effizienten Deutschen die Frage stellt, ob sich der Erhalt einer Kirche überhaupt lohnt. Im Gebäude spüre ich jedoch die Gefühle der Generationen von Menschen, die hier zu unterschiedlichen Anlässen zusammengekommen sind. Freude, Trauer, Hoffnung, Verzweiflung, Reue, Glück und viele andere Empfindungen liegen wie ein Schleier in der Luft und senken sich auf mich nieder. Das ist die Magie dieser Kirchen. Menschen tragen ihre Gefühle hinein und lassen einen Teil davon in den Mauern zurück.

Vielleicht ist es auch diese emotionale Reise über Wochen hinweg, die mich Santiago de Compostela relativ gelassen erleben lässt. Ich war mir auch gar nicht sicher, ob ich mir die Compostela, die Urkunde über meine gelaufenen Kilometer, ausstellen lassen will. Darüber habe ich zwei Tage nachdenken müssen, bis ich zu dem Schluss kam, dass dieses erste Ankommen das Ende eines Weges markiert. Es wird neue Wege geben, aber dieser Weg ist hier zu Ende.

Froggy hat es anders erlebt, wie man im Blogbeitrag „Es raucht und qualmt“ lesen kann. Für sie war es immer, über all die Jahre hinweg, ein Ziel, den qualmenden Weirauchkessel, den Botafumeiro, über ihrem Kopf schwingen zu sehen. Deshalb war sie auch sieben Mal in der Messe und jedes Mal war es für sie erneut ein emotionales Erlebnis.

Der schwingende Kessel

Zwei Tage sind wir in Santiago de Compostela, durchstreifen die Gassen und sehen die Freude der anderen Pilger, die gerade erst ankommen. Die Stadt ist entgegen allen Gerüchten sehr schön und wäre auch dann eine Reise wert, wenn es keinen Botafumeiro gäbe.

Der Tag der Abreise ist gekommen. Mit dem Zug geht es zurück ins Baskenland, die ganzen 500 gelaufenen Kilometer fliegen im Rückwärtslauf an uns vorbei. Städtenamen tauchen auf, wecken Erinnerungen und verschwinden; prägnante Gelände, durch die wir uns tagelang kämpften, sind in Minuten passiert; Bergketten begleiten uns eine Weile und bleiben zurück. 10 Stunden sitzen wir im Zug, die gelaufene Strecke bekommt eine andere Dimension und die eigene Leistung auch.

Dann stehen wir am Flughafen und pressen unsere Nasen an der Scheibe platt, denn gerade ist das Flugzeug gelandet, das uns wieder nach Köln bringt. Viele Leute steigen aus, aber wir sehen nur sie – die Pilger*innen. Die mit den neuen Rucksäcken, an denen erwartungsfroh eine Jakobsmuschel baumelt.

Ein neues Gefühl taucht auf: Der Wunsch, noch mal am Anfang einer langen Reise zu stehen.