von Fijula

Es sind noch 20 Kilometer zu gehen bis Santiago de Compostela, heute am 5. Oktober.

Der letzte Lauftag – das erste Ankommen. Man kann mehrmals nach Santiago de Compostela gehen, aber man kann nur einmal zum ersten Mal ankommen.

Nach sieben Jahren und über 2000 gelaufene Kilometer wollen wir uns für dieses erste Ankommen viel Zeit lassen. Unterwegs treffen wir andere Pilger und Pilgerinnen, denen es genauso geht. Man schlendert gelassen von einer Kaffee-Bar zur nächsten. An einer Stempelstation tönt „The Final Countdown“ aus der Musikbox. Jede Kirche wird „mitgenommen“, man lächelt sich wissend zu.

Im Wald saugen wir das tiefe Grün auf, als wollten wir es in uns konservieren. Chora bezeichnet das Grün, das mit dem Lichteinfall durch die Blätter in verschiedenen Nuancen schimmert, als Kraftquelle. Wir haben viele Kraftquellen kennengelernt auf unserem langen Weg hierher.

Die meisten davon in uns selbst, andere in Form einer Tortilla, die uns von freundlichen Menschen gereicht wurde. Wir haben gelernt, dass Körper und Geist eine Einheit bilden und sich beide Teile in Balance befinden müssen, um es mit den Schwierigkeiten des Weges aufnehmen zu können. Ich behaupte, das gilt auch fürs Leben.

Auf den letzten Kilometern sehen wir immer häufiger Gedenkstätten, an denen Pilger ihre Gedanken und Wünsche platzieren. Manche finden wir in Form von Briefen, Notizen und Fotos, aber auch Schmuckstücke und Figuren sehen wir. Andere lassen ihre Schuhe zurück.

„Nein – meine Schuhe will ich nicht hier lassen“, sage ich. Ich werfe einen liebevollen Blick auf meine ausgebeulten, staubigen Trailrunningschuhe. Diese Schuhe haben mich über 800 Kilometer von den französischen Pyrenäen quer durch Nordspanien bis vor die Tore von Santiago getragen. Ihre Sohle ist glatt geschliffen von tausenden und abertausenden von Schritten über steinige Wege.

Diese Schuhe gehen jetzt rauf mit mir auf den Monte do Gozo. Von dort hat man einen ersten Blick auf die Kathedrale von Santiago. Der Monte do Gozo (Berg der Freude) ist ein letzter emotionaler Meilenstein sowie ein letztes Erklimmen einer Anhöhe nach einem wochenlangen und zu früheren Zeiten monatelangen Marsch. Er liegt oberhalb der Stadt Santiago de Compostela und sie breitet sich zu seinen Füßen aus. Die spitzen Türme der Kathedrale ragen in der Ferne auf und man ist dem Ziel so nah.

Von hier gingen die Pilger früher barfuß und barhäuptig ins Tal. Auch heute sieht man noch vereinzelt wenige Pilger ohne Schuhe weiterlaufen. Ich entscheide mich gegen barfüßig und für barhäuptig, was mangels Hut kein großes Problem darstellt. Die Schuhe lege ich nur kurz ab, als wir uns für ein Picknick auf der Wiese niederlassen, die letzten Vorräte teilen und den Moment in uns klingen lassen. Schweigend beobachten wir, wie die Sonne sich auf unsere muskulösen, bronzefarbenen Beine legt. Wir sind unseren Beinen dankbar, dass sie so lange durchgehalten haben, nicht ohne Schrammen und Beulen, aber stärker denn je.

Wenig später beginnen diese Beine mit dem Abstieg in die Stadt. Wir kommen der Kathedrale immer näher. Leute in den Straßen, die die Pilgerinnen in uns erkennen, klatschen und rufen „Congratulations“ und „You made it!“ – Ihr habt’s geschafft. Es geht durch Gassen und um Ecken, es ist einiges los in den Straßen. Es trifft uns beinahe unvorbereitet, als hinter der letzten Ecke die Kathedrale auftaucht.

„Ich glaube, wir sind da“ – verwirrt schaue ich Chora und Fleur an, die genauso erstaunt auf das große Gebäude starren, das wir von so vielen Bildern kennen. Nun stehen wir davor, dort wo schon Millionen von Pilgern und Pilgerinnen vor uns gestanden haben. Der Platz ist mit Pilgervolk gefüllt, aber nicht überfüllt, wie uns einige Berichte in Social Media befürchten ließen. Manche hocken auf dem Boden, andere lassen sich fotografieren oder teilen ihre Freude mit Pilgerfreunden. Es sind einige bekannte Gesichter darunter, es wird sich glücklich zugewinkt.

Wir hören, wie jemand aufgeregt unsere Namen ruft. Es ist Laura aus Kolumbien, die wir unterwegs kennengelernt haben. Erfreut fallen wir uns in die Arme. Sie ist auch heute angekommen und möchte in die Messe. Das verschieben wir auf morgen. Wir machen uns auf den Weg zu einem Restaurant, das noch 2 Kilometer außerhalb liegt, um dort auf die anderen Pelerines zu treffen.